„Kontraproduktiv“ und „todfeindlich“. Zur Aktualität von Ivan Illichs Nemesis der Medizin angesichts der Corona-Krise

Das Gesundheitssystem dient nicht der Gesundheit, sondern dem industriellen Wachstum – so lautet Ivan Illichs Kernthese in seinem in den 1970er Jahren vielbeachteten Buch „Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens“. Den Versuch, mit immer mehr technischen Mitteln Gesundheit zu produzieren, entlarvt er als kontraproduktiv. Wir gewöhnen uns an die technische Befriedigung von Bedürfnissen, so Illich, statt sowohl mit der Sonnenseite als auch mit der Schattenseite des Lebens zurechtzukommen.

Angesichts der Corona-Krise ist Illichs grundlegende Kritik an der technisierten Medizin und ihrer quasi religiösen Verklärung brandaktuell: Die Überhöhung der Impfung als Allheilmittel, die soziale und staatliche Kontrolle bis hinein in die Wohn- und Kinderzimmer, ausufernde Machtprivilegien von Virologen – die Corona-Krise war geradezu ein Musterbeispiel für eine erschreckende Verplanung und Technisierung des Alltags, inklusive ihrer Verklärung.

Wer den Glaubenssätzen dieser Krise auf den Grund gehen möchte und sich die eigenen Fähigkeiten, füreinander zu sorgen, zu genesen, gesund zu sein, zu heilen und anderen beiszustehen nicht von einer „Megatechnik“ (Illich) rauben lassen will, dem sei die (Re-)Lektüre von Ivan Illichs Nemesis wärmstens empfohlen. Meinen eigenen Buchbeitrag zu diesem Thema gibt es hier; er ist unter dem Titel „Kontraproduktiv“ und „todfeindlich“. Zur Aktualität von Ivan Illichs Nemesis der Medizin angesichts der Corona-Krise im Jahr 2023 im Sammelband „Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom“ im Promedia-Verlag erschienen.

Programmierte Kommunikation statt persönlicher Begegnung? Springer essential erschienen

Wie wirken sich Videosprechstunden und Depressions-Apps auf die therapeutische Beziehung aus? Gewöhnen wir uns daran, von KI diagnostiziert und von Chatbots getröstet  zu werden?

Im Feld der Psychotherapie ist die Begegnung zwischen zwei Menschen nicht mehr selbstverständlich. Online-Sitzungen sind alltäglich geworden. Apps bieten Therapien ohne Therapeuten und simulieren ein verständnisvolles Gegenüber. Dieses essential untersucht, wie die Digitalisierung unsere grundlegenden Selbstverständlichkeiten derart verändert, dass es kaum noch befremdlich erscheint, sich von Software trösten und therapieren zu lassen. Es plädiert für „digitale Askese“, um das Bewusstsein für den fundamentalen Unterschied zwischen programmierter Kommunikation und persönlichen Begegnung zu bewahren. Hier geht’s zum Buch!

 

 

Corona: Denken nach Illich

Update 12/2020: David Cayley hat inzwischen zwei weitere Texte zur Corona-Krise geschrieben, die ich hier zugänglich machen möchte: Pandemic revelations und The Prognosis.

Zwei nachdenkliche Beiträge zur derzeitigen Corona-Krise, die aus dem Ivan Illich – Freundeskreis stammen, möchte ich hier zugänglich machen und weiterverbeiten: Erstens den Text „On Corona Days“ von Sajay Samuel, und zweitens den Blogeintrag „Questions about the current pandemic from the point of view of Ivan Illich“ von David Cayley.

 

Vom Zuhören zum Abhören: Wie digitale Therapieangebote unsere historisch gewachsenen Grundlagen von Beziehung und Begegnung brüchig werden lassen

Der jüdische Denker und Gelehrte Martin Buber hat eine Philosophie der Begegnung geschrieben, und darin formuliert er den Satz: „Der Mensch wird am Du zum Ich“. Es ist die Begegnung, die Beziehung, die uns zu Menschen macht.

Was passiert, wenn es zunehmend programmierte Rechner sind, die „Du“ sagen?

Diese Frage habe ich am 8. September auf der Erfurter Psychotherapiewoche 2019 und eine knappe Woche später auf dem 17. Bonner Psychotherapie-Symposium erörtert. Wer den Vortrag gerne lesen möchte, kann ihn hier herunterladen.

Health literacy as a social practice

On the basis of ethnographic interviews in superdiverse urban neighborhoods, I propose to understand health literacy as a social practice. So far, health literacy is mainly conceptualized as a individual cognitive skill which, according to surveys such as EU-HLS, the majority of people does not possess in an adequate way.  Yet, these assessment tools systematically ignore social and experiential dimensions of knowledge on health and healthcare. Ethnographic research brings forward these neglected dimensions and calls for rethinking basic assumptions underlying the concept of health literacy.

https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2019.02.024

Nutzen und Risiken von psychotherapeutischen E-Health – Angeboten

Ende vergangenen Jahres hatte mich der DGVT-Berufsverband um ein Experten-Interview zur Online-Psychotherapie gebeten. Die Fragen wurden mir schriftlich zugeschickt – und ich habe sie eine ganze Weile liegen lassen, denn mir schienen sie zu zugleich sehr genau und komplex. Inzwischen wurde das Interview auf der Homepage des Berufsverbandes veröffentlich. Wer neugierig ist, kann dort meine Antworten nachlesen.

 

Digitale Selbstbestimmung

Die „digitale Revolution“ im Gesundheitswesen ist in vollem Gange. Big Data, Künstliche Intelligenz, elektronische Patientenakten, Gesundheits-Apps – neue digitale Techniken und Angebote verändern nicht nur die Gesundheitsversorgung, sondern auch unser Gesundheitsverständnis, die Arzt-Patienten-Beziehung und das, was von Kranken und Gesunden erwartet und gefordert wird. Was können und sollten Institutionen und Organisationen im Gesundheitswesen tun, um digitale Selbstbestimmung zu ermöglichen und zu fördern? Das ist die zentrale Frage, die mich im Rahmen meines Projektes „TK-DiSK: Digital·Selbstbestimmt·Kompetent. Ein Projekt zur Stärkung der digitalen Gesundheitskompetenz von Patient*innen und Organisationen“ antreibt. Die offizielle Seite des Projektes findet sich hier.

Mit der TK arbeite ich als freiberufliche Wissenschaftlerin zusammen und habe hierfür eine neue Webseite eröffnet, auf der ich meine Projekte und meine Angebote darstelle. Die neue Webseite findet sich hier. Nanja Heid hat für mich das tolle Logo entworfen (s.o.), das ich für meine freiberufliche Arbeit nutze.

Heilkunde vs. Datenverarbeitung: Was macht eine gute ärztliche Entscheidung aus?

Auf der Pfizer-Webseite „Landdergesundheit“ präsentiert IBM seinen Supercomputer „Watson“ als Hilfsmittel, das Ärzte umfassend und schnell mit denjenigen Informationen versorgt, die sie angesichts ihrer Patienten für die Diagnosestellung und Therapiefindung brauchen. Es scheint, als würde „Watson“  lediglich eine solide und breite Grundlage für die ärztliche Entscheidungsfindung liefern. Tatsächlich krempelt ein solcher Supercomputer jedoch das, was ärztliches Handeln und Entscheiden bedeutet, grundlegend um. Schon heute wird die Frage „Was fehlt Ihnen?“ sowie eine anschließende körperliche Untersuchung der Patientin durch bloße Datenerhebung und den gemeinsamen Blick auf den Bildschirm verdrängt. Wenn die Medizin jedoch „Leidende“ zunehmend als Datenprofile behandelt, deren Diagnose und Therapie statistisch kalkuliert werden können, steht sie dann überhaupt noch in der Tradition der Heilkunde? Behandelt sie Menschen noch als Individuen? Meine Kritik an der Vorstellung, datengetriebene statistische Berechnungen könnten herausfinden, was für mich, für Sie oder für meine kranke Freundin gut und richtig ist  – sowie ein link zum Beitrag von IBM  – findet sich hier:

https://www.landdergesundheit.de/digitalisierung/big-data-medizin-chancen-risiken

Kategorien Allgemein

Programmierte Entscheidungen. Gefährdet die Digitalisierung unsere Selbstbestimmung?

Donnerstag, 28. September 2017, 20:00 Uhr, Villa Ichon

Computer, die uns Entscheidungen abnehmen, sind heute alltäglich: Smarte Videokameras spüren unerwünschte Personen auf, Smartphones generieren Depressionswarnungen und IBM’s Supercomputer „Watson Health“ soll dem Arzt Diagnose- und Behandlungsentscheidungen abnehmen. Digitale Entscheider gelten als effizient und rational, weil sie nicht ermüden, auf riesige Datenmengen zugreifen und sich nicht von Emotionen leiten lassen. Was bedeutet es jedoch für eine Gesellschaft, wenn sie politische, professionelle und persönliche Entscheidungen an Maschinen delegiert? Der Soziologe Zygmunt Bauman spricht hier von „organisierter Verantwortungslosigkeit“, weil tatsächlich niemand mehr antwortet. Das, was als „erwünscht“ und „unerwünscht“, also als „krank“ bzw. „gesund“ oder „normal“ bzw. „auffällig“ gilt, wird nicht mehr sozial ausgehandelt, sondern in Algorithmen verpackt, die Objektivität vorgaukeln. Droht uns eine maschinelle Technokratie, die unsere Selbstbestimmung unterhöhlt? Es diskutieren drei Experten, die im IT-Bereich arbeiten und sich seit Jahren mit den sozialen und politischen Dimensionen der Digitalisierung beschäftigen:

Frieder Nake, Professor für Graphische Datenverarbeitung an der Universität Bremen, Computerkünstler

Lars Fischer, Mitglied des Chaos Computer Clubs Bremen, forscht als Informatiker zur Sicherheit zukünftiger Energienetze an der Universität Oldenburg

Kai Osterhage, aktiv im Verein Digitalcourage („BigBrotherAwards“), seit über 20 Jahren in der IT beschäftigt

Moderation:

Silja Samerski, Sozialwissenschaftlerin an der Universität Bremen, forscht u.a. zur „Programmierung des Entscheidens“.

Digitale Mündigkeit

Ob „E-Health“, „Gesundheit 2.0“ oder „Self-Tracking“ – Big Data und Digitalisierung erfassen das Gesundheitswesen. Im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Bereichen hat die „digitale Revolution“  hier besonders tiefgreifende Auswirkungen: Erstens geht es um ein höchstes Gut, nämlich Gesundheit, und zweitens sind als Patienten und Versicherte praktisch alle Bürger betroffen.

Weiterlesen